Koblenzer Konsent zur evangelischen und katholischen Religionsdidaktik: Theologische Positionalität im Kontext religiöser Bildung1
Die folgenden Grundsätze zur Positionalität der Inhalte und Akteure religiöser Bildung stellen einen Konsent dar, an dem sich die Religionslehrer:innenbildung und die schulische Praxis des katholischen und des evangelischen Religionsunterrichts ausrichten. Damit steht neben dem Beutelsbacher Konsens für die Politikdidaktik (1976) und dem Dresdener Konsens für die Philosophie- und Ethikdidaktik (2016) nun ein Orientierungstext für die Fächer Evangelische und Katholische Religionslehre zur Verfügung, der zugleich der besonderen rechtlichen Stellung des Religionsunterrichts Rechnung trägt.
Als einziges Schulfach ist der Religionsunterricht im Grundgesetz verankert. Gemäß Art. 7.3 GG wird dieser Unterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt. Art. 7.3 GG ist im Zusammenhang mit der in Art. 4 GG zugesicherten Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu interpretieren: Allen Lernenden beziehungsweise bei nicht religionsmündigen Schüler:innen allen Eltern, die diesen Unterricht für ihre Kinder wünschen, wird die positive Religionsfreiheit durch Teilnahme am Religionsunterricht garantiert; die negative Religionsfreiheit bleibt dadurch gewahrt, dass eine Abmeldung vom Religionsunterricht möglich ist. Als ordentliches Lehrfach tritt der Religionsunterricht dabei gleichberechtigt neben die anderen Fächer des schulischen Fächerkanons. Er wird jeweils gemeinsam von den Religionsgemeinschaften und dem Staat verantwortet. Dieses Zusammenspiel lässt aber immer wieder Fragen nach der religiösen und theologischen Positionalität der Akteure religiöser Bildung aufkommen.
Positionalität nennt man die spezifische, auch konfessionsbezogene Haltung innerhalb eines Fachdiskurses von Subjekten, Lerngegenständen und Institutionen zu einem Sachverhalt, der begründet werden kann, nicht zufällig ist und längerfristig zur Verfügung steht. Positionalität wird im Kontext von Rahmenbedingungen (Art. 7.3 GG, Missio-/Vokationsordnungen etc.), auf Akteursebene (Lehrer:innen, Schüler:innen, Eltern etc.), auf Gegenstandsebene (Bekenntnistraditionen, religiöse Praxis etc.) und auf didaktischer Ebene (Unterrichtsgestaltung, Ziele etc.) relevant.
Theologische Positionalität im Kontext von religiöser Bildung soll an dieser Stelle in vier Leitsätzen geklärt werden. Grundlegend ist dafür die Unterscheidung zwischen Religion (als kulturelle Praxis) und Theologie (als wissenschaftliche Reflexion religiöser Praxis).
1. Positionalität und Perspektivität erkennen lassen (Transparenzgebot): Die Erteilung von evangelischem und katholischem Religionsunterricht erschöpft sich auf Seiten der Lehrer:innen nicht in der Umsetzung fachwissenschaftlicher, fachdidaktischer, kirchlicher und ministeriell-organisatorischer Vorgaben, sondern erfolgt in pädagogischer Freiheit und theologisch begründeter Selbstverortung. Dies bedeutet, dass Religionslehrer:innen nicht nur fachwissenschaftliche, hermeneutische, kommunikative und didaktische Fertigkeiten benötigen, sondern auch erkennbare religiöse und theologische Standpunkte vertreten und in ihrer Genese und in möglichen Geltungsbereichen transparent machen müssen. Dies steht im Einklang mit den Grundlagen des katholischen und des evangelischen Religionsunterrichts; beiden Fächern geht es um eine transparente und aufgeklärte Positionalität. Eine religiöse Bildung, die ihre Positionen offenlegt, dient sowohl dem differenzierten Kennenlernen als auch der (theologischen) Reflexion religiöser Tradition und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Sie bedient sich eines offenen und zugleich engagierten Diskurses im religiös-weltanschaulichen Pluralismus, ist dem Geist von Demokratie, Menschenwürde und Gleichberechtigung verpflichtet und fordert vernünftige Reflexion. Dabei zollt sie der legitimen Vielfalt alternativer Positionen Respekt und ist sich der bleibenden Fraglichkeit, Perspektivität und Subjektivität des eigenen religiösen und theologischen Standpunkts bewusst. Von den Lernenden soll die Positionalität der Lehrenden als transparent wahrgenommen werden können.
2. Kontroversität fördern (Kontroversitätsgebot): Die prinzipielle Kontroversität des religiös-weltanschaulichen Pluralismus der modernen Gesellschaft und deren freiheitlich-demokratische Grundordnung erfordern es, einen eigenen Standpunkt einzunehmen, kritisch Position zu beziehen, Alternativen wahrzunehmen und Argumente über die individuellen Daseins- und Wertorientierungen im vernünftigen Diskurs auszutauschen sowie auf ihre Begründungen hin zu prüfen. Damit werden ein Pluralismus der Beliebigkeit vermieden, Pluralitätsfähigkeit erlernt, Ambiguitätstoleranz kultiviert und der Umgang mit Ambivalenzen des eigenen Lebens und dem Leben anderer geschult. Der Religionsunterricht ist deshalb so zu gestalten, dass zentrale, auch voneinander abweichende Positionen und ihre Begründungen im Unterricht behandelt werden.
3. Respektvolle Kommunikation einüben (Respektgebot): Im evangelischen und im katholischen Religionsunterricht soll respektvoll mit anderen Menschen auch über differente Positionen kommuniziert werden. Dies gilt für den Umgang der Lehrenden mit den Lernenden, den Umgang der Lernenden untereinander sowie den respektvollen Umgang mit religiösen Zeugnissen und Positionen in den Lerngegenständen. Auf diese Weise ist die respektvolle Kommunikation als eine diskursive Grundhaltung einzuüben und in ihrer Wirkung zu behandeln.
Aus dem Respektgebot resultiert ein Vereinnahmungs- und Überwältigungsverbot. Mechanismen der Suggestivität sollen durchschaubar gemacht werden. Auf diese Weise wird allen Positionen, die dies selbst nicht beachten, eine Grenze gesetzt.
4. Urteils- und Handlungsfähigkeit ausbilden (Orientierungsgebot): Grundlegendes Ziel des katholischen und des evangelischen Religionsunterrichts ist die kritische Bildung der Urteils- und Handlungsfähigkeit der Schüler:innen im Blick auf eigene Erfahrungen und im Umgang mit Religion als Aspekt humaner Deutungskultur, als geschichtlich gewordenes plurales Phänomen, als prägender Kulturfaktor, als bedeutsames sinnstiftendes beziehungsweise identitätsförderndes Angebot und als gesellschaftliche Größe. Im evangelischen und im katholischen Religionsunterricht werden die einzelnen Schüler:innen auf ihrem Weg zu religiös aufgeschlossenen und handlungsfähigen Persönlichkeiten („Subjektwerdung“) begleitet sowie fordernd und fördernd angeregt, ein eigenes Orientierungswissen auszubilden und in ihrer lebensweltlichen Praxis anzuwenden.
1 Der Text wurde im Frühjahr 2023 von einer ökumenisch zusammengesetzten Arbeitsgruppe erarbeitet und im Laufe des Folgejahres angenommen durch kirchliche Konferenzen, Fachverbände der Religionslehrerbildung und wissenschaftliche Gremien der Theologie und Religionspädagogik.